Medical Editions 2023 · Nr. 1 ISSN 1865–2417 | HIER Publikation im Vollbild lesen
„Lipoprotein(a) – es wird Zeit, das Dornröschen wach zu küssen“, so titelte Prof. Dr. Florian Kronenberg, Leiter des Instituts für Genetische Epidemiologie der Medizinischen Universität Innsbruck und anerkannter Experte auf dem Forschungsgebiet zu Lipoprotein (a) [Lp(a)], einen 2017 erschienenen Artikel.1 Er beklagte schon damals, dass das Wissen, wonach sich hinter einer koronaren Herzkrankheit (KHK) nicht selten ein erhöhter Lp(a)-Spiegel versteckt, leider noch zu wenig im klinischen Alltag angekommen sei. Seither hat sich die wissenschaftliche Evidenz zur Bedeutung dieses pathogenen Lipoproteins noch erheblich ausgeweitet und konsolidiert. So gilt es inzwischen als erwiesen, dass Lp(a) eine kausale Rolle bei der Entstehung und Progression vieler kardiovaskulärer Erkrankungen besitzt. Dazu gehören neben KHK auch Aortenklappenstenose, ischämischer Schlaganfall, periphere arterielle Verschlusskrankheit und Herzinsuffizienz.
Von daher ist auch der bei erhöhten Lp(a)-Spiegeln zu beobachtende negative Einfluss auf die kardiovaskuläre Mortalität und Gesamtmortalität erklärbar.
Das rasch expandierende Wissen zu Lp(a) soll mit Hilfe der sechs Beiträge in der vorliegenden „Premium Selection“ einer kardiologisch tätigen und interessierten Ärzteschaft vermittelt werden. Denn werden bei einem Patienten pathologisch erhöhte Lp(a)-Werte festgestellt, so kann dieser Befund nicht nur die den Erkrankten oft quälende Frage nach dem „Warum“ seines Leidens beantworten, er erfordert auch dringend ärztliche Konsequenzen, nämlich ein strenges Management sämtlicher bekannten kardiovaskulären Risikofaktoren, seien sie nun verhaltens- oder medizinisch bedingt. Aufgrund der genetischen Determinierung des Lp(a)-Spiegels kann es eventuell sogar hilfreich und angezeigt sein, in der Familie eines Betroffenen ein Lp(a)-Screening vorzunehmen. Die ganze Dimension des Lp(a)-Problems wird daran deutlich, dass die Zahl von Menschen mit einem pathologisch erhöhten Lp(a)-Plasmaspiegel von >50 mg/dl auf weltweit mehr als 1,4 Milliarden geschätzt wird.2
Was ist Lp(a)? Dieses Plasma-Lipoprotein, das erstmals 1963 von dem norwegischen Genetiker Kåre Berg3 beschrieben und lange Zeit als „rätselhaft“ und selbst 2004 noch als „schwer fassbar“4 eingeordnet wurde, konnte bisher nur beim Menschen, den Primaten der Alten Welt und dem europäischen Igel gefunden werden. Seine physiologische Funktion ist nach wie vor unbekannt. Es handelt sich um einen makromolekularen Komplex, der aus einem Molekül eines Apoprotein B-100 (ApoB100) enthaltenden LDL-Partikels und einem Molekül eines höchst polymorphen Glykoproteins namens Apolipoprotein (a) [Apo(a)] besteht; ApoB100 und Apo(a) sind über eine Disulfidbrücke kovalent miteinander verbunden. Eine charakteristische Eigenschaft von Apo(a) sind schleifenartige Strukturen, die nach einem skandinavischen Gebäck als Kringel (engl. kringles) bezeichnet werden. Diese finden sich auch bei einer Reihe von Koagulationsfaktoren wie etwa dem Plasminogen. Die Höhe des Lp(a)-Plasmaspiegels ist weitgehend hereditär bestimmt und variiert interindividuell in einem viel höheren Umfang als andere Plasma-Lipoproteine, und zwar von <0,1 bis >300 mg/dl (<0,2 – 750 nmol/l). Auch zwischen ethnisch definierten Populationen bestehen manchmal erhebliche Unterschiede. Beim einzelnen Individuum ist das kodierende LPA-Gen im Alter von 2 Jahren voll exprimiert, und die späteren Erwachsenenspiegel von Lp(a) sind mit etwa 5 Jahren nahezu erreicht.5 Auf molekularer Ebene ist es ein spezieller Typ von Kringeln, der Kringel IV Typ 2 (KIV-2), der aus einer genetisch determinierten sehr variablen Zahl von Repeats (von 1 bis über 40) besteht, deren Länge wiederum in einer inversen Beziehung zur Höhe des Lp(a)-Plasmaspiegels und dem kardiovaskulären Risiko steht.
Wir hoffen, mit diesen einleitenden Informationen Ihr Interesse an diesem faszinierenden und klinisch relevanten Lipoprotein geweckt zu haben und wünschen Ihnen eine anregende und nutzbringende Lektüre.
1 Kronenberg K, Praxis 2017;106(17):949 – 54
2 Tsimikas S & Stroes ESG, Atherosclerosis 2020;300:1 – 9
3 Berg K, Acta Path Microbiol Scand 1963;59:369 – 82
4 Berglund L & Ramakrishnan R, Arterioscler Thromb Vasc Biol 2004;24(12): 2219 – 26
5 Kenet G et al. Circulation 2010;121:1838 – 47